Rotkäppchen sozialistisch
Es gab vor einiger Zeit in Thüringen noch ein riesiges Waldstück, das noch nicht zu einem volkseigenen Erholungsgebiet für die werktätigen Massen umfunktioniert war. In diesem Waldstück lebte ein reaktionärer Wolf, den man nach der Kapitulation des faschistischen Hitler-Regimes nicht in eine staatliche Heilanstalt eingewiesen hatte.
An einem schönen Sommertag, man feierte gerade das 25-jährige Bestehen der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik, ging ein fortschrittliches Rotkäppchen ganz allein durch den Wald. Es trug ein blaues Hemdchen, ein gelbes Halstuch und ein rotes Käppchen auf ihrem Haar. Es wollte an diesem Festtag der linientreuen Großmutter dem Sozialismus zu Ehren russischen Wodka des sowjetischen Brudervolkes schenken.
Plötzlich begegnete ihm der böse faschistische Wolf. Er hatte eine rote Zunge, damit niemand etwas von seinen volksverhetzenden Absichten merkte. Rotkäppchen ahnte auch nichts Böses, weil sie meinte, einen ganz normalen proletarischen Hund vor sich zu haben.
„Es lebe Iljitsch“, sagte der Wolf. „Wo gehst du denn hin?“ „Ich gehe zu meiner Großmutter in den Veteranenclub der Volkssolidarität“, antwortete Rotkäppchen. „Aha“, sprach der Wolf, „dann bringe ihr doch zu Ehren unserer proletarischen Bewegung ein Blumensträußchen mit, das du im nahen von Jungpionieren angelegten Lenin-Park pflücken kannst.“
Das tat Rotkäppchen dann auch. Der faschistoide Wolf jedoch eilte in den Veteranenclub, fraß den bürgerlich-korrupten Portier, verschlang die sozialistische Großmutter, schlüpfte in ihre Kleider, steckte sich die Aktivistennadel an und legte sich ins Bett.
Da kam auch schon das Rotkäppchen zur Tür herein und fragte: „Nun, liebe fortschrittliche Großmutter, wie geht es dir?“ Der Wolf versuchte die volksnahe Stimme der Großmutter nachzuahmen und antwortete: „Gut, mein liebes Kind.“ Rotkäppchen fragte erstaunt: „Warum sprichst du heute so bürgerlich-kapitalistisch zu mir?“ „Ach, die Rednerausbildung am Vormittag hat mich zu sehr beansprucht“, antwortete der Wolf. „Aber Großmutter, was hast du für große Ohren?“ „Damit ich das Geflüstere der imperialistischen Volksfeinde besser hören kann.“ „Was hast du denn für große Augen?“ „Damit ich die CIA-Schergen besser sehen kann.“ „Was hast du denn für einen großen Mund?“ „Du weisst doch, daß ich im ZK der Partei tätig bin!“ Und mit diesen Worten fraß der Wolf das arme Rotkäppchen, legte sich wieder ins Bett, schlief in seiner verantwortungslosen Art sofort ein und schnarchte laut.
Da ging draußen eine Delegation der FDJ vorbei, ein munteres sozialistisches Lied auf den Lippen. Die FDJ-ler hörten das Schnarchen des Wolfes und dachten: „Wie kann eine volksdemokratische Großmutter nur so imperialistisch-subversiv schnarchen?“ Und als der Delegationssprecher nachsah, fand er den Wolf, ließ eine Kalaschnikow holen und schoß ihn, obwohl er nicht in der Betriebskampfgruppe war, auf eigene Verantwortung tot.
Dann schlitzte er ihm den Bauch auf und fand Großmutter und Rotkäppchen noch lebend. Um den bourgeois-dekadenten Portier kümmerte er sich nicht, der war ja auch schon fast verdaut.
War das eine Freude! Der Wolf wurde dem VEB Konservenkombinat zugewiesen und zu Fleisch im eigenen Saft verarbeitet. Der Delegationssprecher durfte an der Uniform den Orden „Held der sozialistischen Arbeit“ tragen, Rotkäppchen kam auf die Einheitsliste der Nationalen Front und ist heute Kandidatin des ZK der SED, und die Großmutter durfte in einem sozialistischen Freundschaftslager in der VR Kuba vier Wochen lang Feldarbeit für den sozialistischen Aufbau leisten.