Rotkäppchen und das Klavier
Es war einmal ein allerliebstes, niedliches Mädchen, das hatte eine Mutter, die war gut und hatte das kleine Kind so lieb. Sie schenkte ihm auch immer dies und das und hat ihm auch ein feines Käppchen aus rotem Kunststoff geschenkt, das stand ihm so hübsch. Es hatte auch so frische rote Wangen und wollte nichts anderes mehr tragen als das rote Käppchen, und darum hieß es bei jederman nur das ‘Rotkäppchen’. Das Rotkäppchen und seine Mutter wohnten im neunten Stock der ‘Wufu Mansion’ in der Nähe von Shimending, Taipei.
Eines Tages fühlte sich die Mutter nicht wohl. Da nahm sie das Rotkäppchen beiseite und sprach zu ihm: „Liebes Rotkäppchen, ich fühle mich nicht wohl heute. Nimm diese Plastiktüte, geh’ zum Apotheker und kaufe eine Flasche Ginseng-Schnaps. Aber hüte dich wohl! Weiche nicht vom Weg ab! In der Stadt ist es gefährlich, und es gibt darin viele schlechte Leute!“
Aber das Rotkäppchen lachte nur. Es ging fröh-lichen Schritts in die Stadt hinein. Wie staunte es, als es das Gewimmel auf den Straßen sah. Von allen Ecken lärmte und schrie es und stank auch nach den verschie-densten Sachen. Nachdem das Rotkäppchen die Flasche Ginseng-Schnaps gekauft hatte, bummelte es noch etwas hin und her und schaute sich verschiedene Schaufenster an. Wie es so völlig arglos in ein Geschäft spazierte, näherte sich plötzlich aus der Ecke ein großes, böses, schwarzes Klavier. Das klappte den Deckel auf und grinste hämisch mit seinen weißen und schwarzen Zähnen (offensichtlich hatte es sich lange nicht die Zähne geputzt). Doch das gute Kind kannte noch keine Klaviere und hatte keine Furcht.
„Wo soll es denn hingehen, so in aller Frühe, mein liebes Rotkäppchen?“ fragte das Klavier.
„Zur Mutter, die sich nicht wohl fühlt!“ antwortete Rotkäppchen. „Und schau – da ist ja auch eine Plastiktüte. Du willst ihr wohl ‘was bringen?“
„Sicherlich, ich habe eine Flasche Ginseng-Schnaps. Davon wird sie wieder stark werden.“
„Sage mir doch noch, mein liebes charmantes Rotkäppchen, wo wohnt denn Deine Mutter? Ich möchte sie doch wohl einmal besuchen.“
„Ach, gar nicht weit von hier. Gleich um die Ecke, im neunten Stock der ‘Wufu Mansion’!“ plauderte das naive Kind. „Aber was sind denn dies noch alles für Sachen im Geschäft hier?“
„Dies“, sagte das Klavier, „ist ein Klavierstuhl. Darauf müssen die kleinen Kinder viele Stunden, Tage, ja sogar Jahre sitzen und Klavier üben. Und das dort ist ein Metronom. Da müssen die Kinder immer schön artig im Takt spielen und dürfen keine eigene Phantasie entwickeln.“
„Ach wie schrecklich!“ rief das Rotkäppchen. „Das müssen aber arme Kinder sein!“
„Das kann man wohl sagen“, grinste das Klavier mit seinem breiten Haifischmaul. „Aber du mußt mich jetzt entschuldigen, denn ich habe noch eine Verabredung!“ Das böse, schwarze Klavier verabschiedete sich plötz-lich, und während das Rotkäppchen noch herumspazierte, rollte das Klavier auf dem schnellsten Wege zur „Wufu Mansion“, bestach den Portier, fuhr mit dem Aufzug zum neunten Stock und klingelte an der Tür. Die Mutter jedoch lag krank im Bett, konnte nicht aufstehen und rief: „Wer ist draußen?“
„Das Rotkäppchen!“ rief das Klavier mit verstellter Stimme. „Ich bringe eine Flasche Ginseng-Schnaps!“
„Der Schlüssel ist unter der Matte!“ rief die Mutter, und das Klavier nahm sofort den Schlüssel, öffnete die Tür, rollte ins Apartment und verschlang die arme Mutter mit Haut und Haaren. Dann zog es die Kleider der Mutter an, legte sich in ihr Bett und zog die Decke über sich.
Nach einer Weile kam das Rotkäppchen – es war verwundert, alles so offen zu finden, da doch sonst die Mutter immer die Türe zusperrte. Es war ihm plötzlich ganz unheimlich zu Mute, und eine beklemmende Angst befiel es.
Wie nun das Rotkäppchen an das Bett trat, da lag die kranke Mutter, war völlig eingehüllt in eine Decke, und war nur wenig von ihr zu sehen, und das Wenige sah gar schrecklich aus. „Ach Mutter, was hast du für goldene Füße!“ – „Daß Du mehr Pedal üben mußt!“ war die Antwort.
„Ach Mutter, was hast Du für einen breiten Mund!“ – „Daß Du mehr Tonleitern üben mußt!“
„Oh Mutter, was hast du so viele weiße und schwarze Zähne!“ – „Daß du mehr Czerny Etüden üben mußt!“
Und damit sprang das Klavier grimmig aus dem Bett, stellte sich mitten ins Wohnzimmer, und das arme Rotkäppchen mußte sich sofort davorsetzen und mit Beyer Übungen anfangen. Danach kamen Czerny Etüden, Cramer und Clementi, auch viele Tonleitern, Dreiklänge und Kadenzen. Das arme Kind mußte viele Stunden vor dem bösen, schwarzen Klavier hocken, und wenn die anderen Kinder draußen spielten, so mußte es drinnen bei geschlossenen Vorhängen in den verschiedensten Taktarten dem Klavier die Zähne putzen. Und während das Rotkäppchen übte, konnte es aus dem Bauch des Klaviers die jammernde Stimme der Mutter hören. Die lebte nämlich noch (das Klavier war so hungrig gewesen, daß es nicht einmal gekaut und die arme Mutter ganz verschluckt hatte). Sieben Jahre lang sollte nun das Kind fleißig üben. Erst dann versprach das Klavier, die Mutter wieder auszuspucken. Und während das Kind seinen Czerny übte, hörte es immerfort die Mutter drinnen jammern: „Ach Rotkäppchen, so spiel doch schneller, schneller, schneller! Und kannst du nicht eine schwierigere Etüde spielen?“
Auch ein Klavierlehrer kam bald. Der jammerte zu-sammen mit der Mutter im Duett: „Schneller, schneller, schneller!“ Das Rotkäppchen verlor bald seine roten Wangen. Es wurde immer blasser und mußte eine Brille tragen. Auch mußte es eine Uniform mit einer Nummer darauf anziehen und die Haare unter dem roten Käppchen wurden ihm so kurz geschoren, daß es gar nicht mehr niedlich aussah. Dann mußte es noch an vielen Wettbewerben und Prüfungen teilnehmen.
Eines Tages, als das Rotkäppchen schon alle Hoffnung aufgegeben hatte und bekümmert übte, kam plötzlich ein berühmter amerikanischer Klavierlehrer vorbei. Der hörte das Rotkäppchen üben und rief voll Entzücken: „My god! What a wonderful prodigy! Never did I hear Czerny that fast!“ Er lud das Rotkäppchen sofort nach Amerika ein. Es bekam ein ‘I-20’ und konnte an der Juilliard School in New York studieren. Auch kaufte es sich Kontaktlinsen, schminkte sich die Wangen rot und trug eine Dauerwelle, so daß es fast noch niedlicher ausschaute als einst. Später heiratete es einen Mediziner, und beide leben heute glücklich und zufrieden in Los Angeles.
Die Mutter aber wurde vom Klavier wieder ausgespuckt. Sie reiste sofort ihrer Tochter hinterher und verbringt jetzt einen angenehmen Lebensabend in Kalifornien. Und da sie niemals sterben werden, so leben sie für immer.